Wiederbelebung

Gedanken zum christlichen Aktivismus von Jim Wallis aus dem Jahr 1983

20. November 2021 | Erhard | #Strategie

Wie kann unser Beitrag als Christen zur Bewältigung der umfassenden Krise aussehen? Welche Haltung sollen wir einnehmen? Wo kann unser Protest und Widerstand ansetzen, welche Formen des gewaltfreien Widerstands sind angemessen und wirksam?

Beim Nachdenken über diese Fragen ist mir das Buch »Wiederbelebung« von Jim Wallis aus dem Jahr 1983 wieder in die Hände gefallen, das mich zur Zeit meines Studiums sehr bewegt und geprägt hat. Jim Wallis ist Begründer der links-evangelikalen Zeitschrift Sojourners (in der übrigens auch Christian Climate Action Mitbegründerin Holly-Anna Peterson Artikel veröffentlicht) und einer gleichnamigen christlichen Kommunität. Ich möchte ein paar Gedanken aus seinem mittlerweile vergriffenen Buch »Wiederbelebung« vorstellen, weil ich denke, dass sie uns als Christ:innen auch heute noch als Anregung für unseren Kampf um Klimagerechtigkeit dienen können.

Jim Wallis und die Sojourners haben die christliche US-amerikanische Friedensbewegung seit dem Vietnamkrieg maßgeblich geprägt und verschiedene Formen des gewaltfreien Widerstand praktiziert – von Mahnwachen über Sit-ins bis hin zur Steuerverweigerung. Die Zeit ihres Engagements, von der er in diesem Buch schreibt, fällt in die Zeit der atomaren Aufrüstung und des Kalten Kriegs nach Ende des Vietnamkriegs. Für sie war die daraus resultierende Bedrohung eben so existenziell und drängend wie für uns heute der ökologische Kollaps.

Im Folgenden stelle ich ein paar Zitate zusammen, die – so finde ich – für sich selbst sprechen:


Gewaltfreier Widerstand in der Friedensbewegung

“Seit fünf Jahren organisieren die Sojourners eine christliche Gegen-Präsenz vor dem Hotel, [in dem die Waffenausstellung der Luftwaffe stattfindet]; eine Mahnwache angesichts dieses Todesrummels und ein Zeugnis für den Friedefürsten. Über 1000 Menschen kamen das letzte Mal zusammen, um zu singen, zu beten, Flugblätter zu verteilen und bei Kerzenschein Wache zu halten. Am Abend des Abschlussbanketts traten fünfzig von uns der ankommenden Prominenz in den Weg, um ihnen symbolhaft Brot anzubieten. Als wir zurückgewiesen wurden, knieten wir an Ort und Stelle nieder – in der Haupteinfahrt des Hotels. Uniformierte Herren und Damen in Abendkleidern mussten sich einen Weg durch eine Blockade von Kerzenlicht, Gebeten und Liedern bahnen, an der 300 Menschen teilnahmen. Diejenigen, die in Limousinen und Taxis ankamen, mussten warten, bis die Brotbringer in Handschellen gelegt, in Polizeiautos geschleppt und abtransportiert worden waren. Das Urteil für ein einfaches, friedliches Sit-in fiel ungewöhnlich hart aus. Der Richter erklärte, er wolle gegenüber solchen Formen des Protests bewusst ein abschreckendes Urteil fällen. (…) In diesem Jahr beteiligten sich erstmals schwarze und weiße Kirchenleitungen an unserem Zeugnis gegen die Armee-Schau. Dieses öffentliche Zusammengehen um des Friedens und der Gerechtigkeit willen war ein bedeutender Durchbruch und öffnete den Weg zu ganz neuen Möglichkeiten der Kooperation innerhalb der Hauptstadt.” (S. 110f)

“Wir haben vor dem Pentagon Zeugnis abgelegt, in New York und in Connecticut, wo die Trident U-Boote vom Stapel liefen. Wir haben auf den Stufen des Kapitols Straßentheater gespielt. Im August veranstalten wir jedes Jahr vor dem Weißen Haus eine Kerzenprozession zur Erinnerung an die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki.
Wir haben seit Jahren die Kirchen ermutigt, den amerikanischen Volkstrauertag (» Memorial Day«) nicht zu Ehren der Kriegstoten, sondern als Buß- und Bettag zum Gedenken an mögliche zukünftige Atomopfer zu begehen. Überall im Land finden jetzt an diesem Tag Friedensgottesdienste statt. 1982 fielen Pfingsten und Memorial Day zusammen. Wir taten uns mit anderen Gruppen zusammen und riefen ein »Wochenende für Zeugnis und Gebet« aus. Gemeinsamer Text war 5. Mose 30, 19; »Wählt das Leben, damit ihr und eure Nachkommen lebt!« Über 10000 Gemeinden hielten Sondergottesdienste; viele Christen pilgerten zu örtlichen Atomfabriken und -arsenalen.” (S. 112)

“In der Karwoche 1982 führten wir zusammen mit Kirchenführern aus dem ganzen Land eine Prozession in der Stadt durch und hielten an bestimmten »Kreuzwegstationen« Gebetspausen. Wir hatten dazu Orte ausgewählt, die an jener Passion beteiligt sind, die zum Alltag des Volkes von El Salvador gehören – das Weiße Haus, die Weltbank, das Außenministerium. Einige Jahre zuvor hatten wir in der Passionszeit Mahnwachen und Tafeln mit den Namen der Gefolterten an wichtigen städtischen Knotenpunkten aufgestellt.” (S. 115)

“Seit anderthalb Jahren hatte die Detroiter »Friedensgemeinschaft« vor den Firmentoren von Bendix, einer Fabrik für wichtige Teile von Atomsprengköpfen, Aktionen verschiedenster Art veranstaltet. Monatelang hatten Christen dort gebetet, Flugblätter verteilt, mit den Arbeitern diskutiert und Gottesdienste gefeiert. Die Aktion am 6. August sollte vor dem Firmenhauptquartier in Southfield/Michigan stattfinden. (…) [Mein Bruder] und die acht anderen betraten das Firmengelände, um dort für den Frieden zu beten. Die Zustände in dem Gefängnis, in das man sie anschließend steckte, waren ziemlich trübe. Tagelang hatte Bill kein Bett, keine Decke und keine Sträflingskleidung.” (S.117)


Selbstreflexion

(Der folgende Text ist aus Zitaten der Seiten 128-132 zusammengestellt:)

“Worauf setzen wir »radikale Christen« allzuleicht unser Vertrauen, so dass es für uns zum Götzen und Gnadenersatz zu werden droht?

  1. Ein einfacher Lebensstil zum Beispiel ist eine biblische Tugend, besonders in einer Gesellschaft, die an ihrem eigenen Überkonsum und Abfall erstickt. (…) Aber es ist nicht unser einfacher Lebensstil, der uns rechtfertigt! Wenn wir unseren Lebensstil zur Schau stellen, als sei er ein Etikett der Rechtfertigung, zerstören wir die geistliche Grundlage unserer wirtschaftlichen Einfachheit. (…) Unser Lebensstil soll ein Ausdruck der Freude sein und darf nicht dazu benutzt werden, andere zu verurteilen oder ihnen ein schlechtes Gewissen zu geben. Er soll vielmehr einladend und ansteckend wirken und die Freiheit und Gnade ausdrücken, die wir gefunden haben.
  2. Dass der Gott der Bibel auf der Seite der Armen und Unterdrückten steht, ist außer Zweifel. Christi Gegenwart bei den »Mühseligen und Beladenen« ist eine Wahrheit, die dem Herzen des Evangeliums entspringt. Aber es kann seine eigenen Fallstricke haben, wenn man sich die Sache der Armen zu eigen macht. (…) Das Leiden der Ausgebeuteten lässt sich allzuleicht wiederum ausbeuten. Das Elend der Armen macht sich gut, um den ideologischen, religiösen und finanziellen Interessen anderer zu dienen. Die Armen werden zum Objekt großer Reden, gutgemeinter Fürsorgeprojekte und politischen Ehrgeizes. Wenn man die Armen dazu benutzt, seinen christlichen Helferkomplex oder seine linke Ideologie auszuleben, dann schlägt man einmal mehr Kapital aus ihren Leiden. (…) Den Armen können die am besten helfen, die einfach versuchen, ihre Freunde zu sein. Wir identifizieren uns nicht mit den Armen, um uns selbst etwas Gutes zu tun, sondern um Christus näher zu sein. Er lebt unter den Leidenden und Vergessenen und lädt uns ein, ihm dort zu begegnen. Er hat uns gelehrt, ihn zu lieben und ihm zu dienen, indem wir seine besondere Passion für die teilen, die am wenigsten geliebt sind.
  3. Die Heilige Schrift sagt uns, dass sich Liebe und Wahrheit in Taten äußern und nicht nur in Worten. Direkte Aktionen im politischen Feld sind zu einem entscheidenden Mittel geworden, um Zeugnis abzulegen, Frieden zu stiften und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Diese Aktionen bringen ans Licht, was gefährlich und falsch ist und verweisen auf einen besseren Weg. Dennoch liegt gerade im öffentlichen Protest eine große Gefahr. Die kritische Anfrage an jede öffentliche Aktion oder Kampagne muss lauten: Wer oder was wird dadurch sichtbar und bekannt? Wird die Wahrheit gefördert? Oder wird nur eine Person, eine Gruppe oder eine Bewegung herausgestellt? Alle unsere öffentlichen Aktionen müssen aus Liebe und Wahrheit kommen. Wir engagieren uns, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, nicht um uns selbst ins rechte Licht zu rücken. Unser Motiv muss sein, den Menschen die Augen für die Wahrheit zu öffnen, und nicht, ihnen zu beweisen, dass wir recht haben und sie nicht. Immer wenn unser Protest darauf abzielt, uns »selbst zu beweisen«, dann sind wir ernsthaft in Gefahr. Unsere besten Aktionen sind die, in denen wir unsere eigene Verstrickung mit dem Bösen bekennen, gegen das wir protestieren; Aktionen, die von einem Geist der Umkehr und Demut getragen sind. Unsere übelsten Aktionen sind die, bei denen wir unsere Selbstgerechtigkeit und unser »Bessersein« demonstrieren und unsere Hände in Unschuld waschen. (…)
    Es ist ungeheuer wichtig, wie wir unser Zeugnis vorbringen. Aktionen, die Hoffnungslosigkeit und Angst verbreiten, sollten schonungslos in Frage gestellt werden. Wir müssen jede Aktion im Nachhinein sehr offen und nüchtern auswerten, damit unser Protest gesund bleibt. Die Art und die Glaubwürdigkeit unseres Auftretens sind ein wesentlicher Teil unserer Botschaft. Öffentliche Aktionen tragen immer die Gefahr der Anmaßung in sich. (…) Deswegen sollte jede öffentliche Aktion in einem bescheidenen und einladenden Geist durchgeführt werden. Schnelle Urteile, Arroganz und Rechthaberei sind Zeichen geistlicher Unreife. Protest, der davon bestimmt ist, wird auf der Gegenseite nur Verhärtung bewirken, die Ängste der Menschen bestätigen und sie in ihrer bisherigen Haltung nur um so sicherer machen. Öffentliche Aktionen können manchmal mehr schaden als nützen. Sie können Menschen von dem, was wir eigentlich sagen wollen, durch ihre Art und Weise geradezu abstoßen.
  4. Gewaltlosigkeit strebt nach Wahrheit, nicht nach Macht. Ihre Waffe ist geistliche Vollmacht, nicht Zwang oder Druck. »Gewaltfreie« Bewegungen sind oft von einer versteckten Aggressivität beherrscht, da wird manipuliert und insgeheim nach Provokation gesucht - alles unter dem Deckmantel ständig wiederholter Gemeinplätze über Gewaltlosigkeit. Das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit kann zur Tarnung des eigenen Machtwillens dienen, der die Grundlage der Gewalt ist. Der Wunsch, Sieger zu sein, die Gegner zu schlagen und Andersdenkende zu demütigen, sind alles Kennzeichen der Gewalt – und leider bei vielem, was sich als »gewaltfrei« ausgibt, nur allzu offensichtlich. (…)
    Gewaltlosigkeit will den Gegner nicht bezwingen, sondern überzeugen. Sie möchte ihn zum Freund machen, ihn gewinnen – statt über ihn zu siegen. (…)
    Geduld ist entscheidend für Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit gründet sich auf jene Liebe, von der Paulus im 13. Kapitel des 1. Korinther-Briefes sagt, sie »erträgt alles«.”

aus: Wiederbelebung, Jim Wallis, 3. Auflage 1987, Brendow Verlag

Ich halte diese mittlerweile fast vierzig Jahre alten Gedanken von Jim Wallis auch heute noch für aktuell und ich denke, dass sie uns in unserer gewaltfreien Rebellion gegen den ökologischen Kollaps wertvolle Anregungen liefern können.

Erhard

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